Tagung 2003 – Hannover

DIE ZUKUNFT WIRD HEUTE GESTALT
inne halten – wahr nehmen – gestalten

Tagung der Gestaltpädagogischen Vereinigung (GPV) e.V.
vom 12.-14. 9. 2003
in Hannover

in Zusammenarbeit mit dem Stephansstift,
Zentrum für Erwachsenenbildung

Dokumentation eines Angebots von Uscha Foster

Dokumentation der Arbeit im Workshop
Integrierender und fördernder Unterricht in heterogenen Gruppen
1. Beschreibung der Ziele
Im Workshop sollten in Anlehnung an ein früheres transnationales Fortbildungskonzept
gestaltpädagogische Prinzipien und Methoden im Umgang mit heterogenen Gruppen kennen gelernt werden.
Dabei ging es um das Wahrnehmen und Verstehen von eigenen Gefühlen und Handlungsimpulsen in ihrer Bedingtheit durch biografische und kulturelle Gegebenheiten.
Die Teilnehmerinnen, Teilnehmer sollten exemplarisch die Wirkung gestaltpädagogischer Arbeitsweisen erleben, sowie die mögliche Umsetzung in die Unterrichtspraxis an einem Beispiel erfahren.
2. Zusammenfassung der Inhalte
2.1. „Erweiterung der Lehrerkompetenzen zum Umgang mit heterogenen Gruppen“
Die Arbeit im Workshop knüpfte an den früheren Erfahrungen in einem transnationalen Fortbildungsprojekt Comenius 3.2.. an.Das Pilotprojekt wurde in drei Phasen durchgeführt:

  • In nationalen Gruppen in Oesterreich, der Tschechischen und der Slowakischen Republik, in Italien und Deutschland wurde das Konzept umgesetzt und evaluiert. Die Teilnehmenden lernten gestaltpädagogische Arbeit kennen und wurden auf das transnationale Seminar im Sommer 2000 vorbereitet.
  • Im transnationalen Seminar konnten die beteiligten Lehrkräfte ihre erworbenen gestaltpädagogischen Kompetenzen erweitern und vertiefen, um sowohl die individuellen Voraussetzungen als auch das Lernklima in kulturell, sprachlich, leistungsmäßig und sozial heterogenen Klassen besser fördern zu können.
  • In einem Folgeworkshop in den nationalen Gruppen wurden die Erfahrungen ausgewertet.

Zwischen den Phasen des Pilotprojekts trafen sich die Projektpartnerinnen und Projektpartner regelmäßig zum Erfahrungsaustausch, zur weiteren Planung und zur Evaluation.

Die Weiterführung des Projekts
Seit 2001 finden zweiwöchige transnationale Seminare statt und sind für Lehrpersonen aller europäischen Länder offen. Finanziert wird die Teilnahme über den Pädagogischen Austauschdienst der jeweiligen Länder.


Was hat die Projektpartnerinnen und Projektpartner dazu bewogen, dieses Projekt zu beginnen?
Gemeinsames Anliegen aller Beteiligten war es, dazu beizutragen, die Gestaltpädagogik in Europa zu verbreiten:

  • Gestaltpädagogische Arbeit als Brückenschlag zu anderen Kulturen;
  • Zunehmende Heterogenität in den Schulklassen und das Vorhaben, stärker als bisher integrativ zu arbeiten;
  • Biografische Selbsterfahrung als Chance, eigene Kompetenzen zu erweitern,
    Lernende zu sein;
  • Arbeit an der eigenen Person: mit Widerständen und Lernblockaden
    umgehen lernen, Vorurteilssicherheit aufgeben (nur wer für sich selbst
    sorgen kann, ist geeignet, andere in ihren Lernprozessen zu begleiten).
2.2.Praktische Übungssequenzen
2.2.1.Übung zur Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit
„Das wichtigste Curriculum ist die Lehrperson“
Werner Herzog, Erziehungswissenschaftler und Präsident der Lehrerbildung in Bern
Die Arbeit in kulturell, sozial, leistungsmäßig und sprachlich heterogenen Gruppen erfordert, dass Lehrerinnen und Lehrer ihre Einstellungen reflektieren, ihre Kompetenzen erweitern und Haltungen entwickeln, die für Lerngruppen und Unterricht förderlich sind.Die Ausbildung ist das Startkapital, aber sie reicht nicht aus, da insbesondere personale und soziale Professionalität sich erst im Berufsfeld entwickelt.

Vonnöten sind:

  • Biografisches Arbeiten
  • Reflexives Potenzial entwickeln
  • Autonomie stärken

Lernen heißt, neues Wissen mit bisherigem Wissen, mit Kenntnissen und Fähigkeiten zu vergleichen bzw. zu verknüpfen.
„Zuviel neues Lernen ruft Ängste, Widerstände hervor, zumal wenn gleichzeitig vermittelt wird, dass das bisherige nicht gut genug war“.

Lehrerinnen und Lehrer haben innere Ressourcen z.B. die Vorbilder der eigenen Lehrpersonen. Es gilt, die erfolgreichen Modelle zu reaktivieren, frühere gute Erfahrungen zu „wieder zu beleben“, um sie für die eigene Arbeit nutzbar werden zu lassen.

Einblick in unsere Arbeit (ein Ausschnitt)
In einer gelenkten Erinnerung vergegenwärtigten sich die Teilnehmenden eine Lehrperson, an deren Modell sie selbst erfahren hatten, wie diese mit Kindern unterschiedlicher Herkunft, verschiedener Begabungen, Fähigkeiten und Interessen umgegangen ist.

Impulse zur gelenkten Erinnerung
Mit welcher Person verbinde ich die Erfahrung, dass mir Lernen und Lehren Freude macht?
Gehen Sie in Ihrer Erinnerung in die Zeit zurück, in der Sie dieser Person begegnet sind..
Vergegenwärtigen Sie sich eine konkrete Situation in einer heterogenen Klasse,
in der sie Unterrichtsstörungen erlebt haben, in der Lernen verweigert wurde, in der Sie Ausgrenzung und Integration beobachtet oder auch selbst erlebt haben…
Wie hat sich die Person, von der Sie gerne gelernt haben, in dieser Situation verhalten?
(Gesichtsausdruck, Geste..)
Was hat sie gesagt, mit welcher Stimme?
Wie fühlen Sie sich in dieser erinnerten Begegnung hier?
Abschied und Zurückkommen
Anschließend schrieben die Teilnehmerinnen, Teilnehmer einen Brief, einen Text oder ein Gedicht an die erinnerte Person und vertieften dabei ihre Erinnerungsbilder indem sie diese verbalisierten.In Kleingruppen tauschten sie sich aus und stellten Gemeinsamkeiten fest.

Sie sammelten drei für sie wesentliche Merkmale einer Lehrperson, die für sie ein positives Modell im Umgang mit Heterogenität ist.

Ergebnisse im Plenum

  • Ausstrahlung
  • Humor
  • Fachliches Können
  • Liebe
  • Autorität
  • Lebensnähe
  • Freude zeigen
  • Begeisterung
  • Klärung der Sache
  • Konsequenz
  • Stärkung der Personen
  • Schülerinnen und Schüler ernst nehmen
  • Gegenseitige Wertschätzung
  • Berechenbar sein
2.2.2. Unterrichtspraktisches Beispiel zum Umgang mit literarischen Texten
Mehrdimensionalität und Intentionalität der Literatur bietet im Unterricht viele Impulse an, das Kognitive mit dem Affektiven und dem Sozialen zu verbinden.
Literarisches Potential stellt eine Quelle dar, wie man die Fantasie entwickeln, eigene Erfahrungen und Emotionen einbringen, andere und sich selbst reflektieren kann.
Dichterische Texte bieten dem Schüler einen großen Raum der Gestaltung – literarisch, musisch und zugleich kreativ. Die Schülerinnen, Schüler können ihre Person einbringen, indem sie die Botschaft des Textes aus ihrer Perspektive wahrnehmen, auf ihre Lebenserfahrungen und ihren Wissenshorizont beziehen und aus ihrer Sicht schildern.
Dafür eignen sich neben dem Medium Sprache auch andere kreative Medien (Farbe, Zeichnungen, Töne,..), die einen fließenden Übergang von der Textrezeption zur Textproduktion ermöglichen. Zugleich werden die Schülerinnen, die Schüler für die verschiedensten Lebenssituationen, die auch in ihrem Leben eine Rolle spielen, sensibilisiert.
Das folgende Gedicht lädt uns ein, eine Phantasiereise zu unternehmen.
Heinz Janisch
Auf der Schaukel
Dieser lange, lange Nachmittag.
Ich sitze im Garten, auf der Schaukel.
Ich möchte davonfliegen,
in den Himmel hinein.
Einfach so.
Und so kann man mit dem Gedicht arbeiten:
1. Stunde

1. Der Lehrer schlägt vor, ein Assoziogramm zum Wort Phantasie zu machen. Das Ergebnis kann etwa so aussehen:
Märchen UFO Schönheit
Jahr 3000 Phantasie Träume
unbekanntes Land neue Lebewesen

2. Jetzt liest jede Schülerin, jeder Schüler das Gedicht für sich selbst.

3. Die Lehrerin, der Lehrer schlägt vor, eine Phantasiereise zu unternehmen.
Die Schüler setzen sich bequem auf die Stühle, entspannen sich, schließen die Augen und hören der Lehrerin, dem Lehrer zu. Zusammen mit ihr, mit ihm stellen sie sich vor, sie seien federleicht, verließen das Elternhaus und schwebten hoch in den Wolken. In ihren Gedanken fliegen sie weiter und sehen unbekannte Städte, Pflanzen, verschiedene Lebewesen…

4. Nach einigen Minuten verlassen sie ihr Phantasieland, verabschieden sich von den neuen Bekannten, von der Natur, dem fremden Land, kehren in die Klasse zurück und öffnen die Augen.

5. Im nächsten Schritt visualisieren sie ihre Erfahrungen und zeichnen ihr Phantasieland.

6. Sie tauschen ihre Erfahrungen, ihre Eindrücke und Gefühle beim Zeichnen in Drei- oder Vierergruppen aus. Die Bilder werden in der Klasse aufgehängt. Die Schüler gehen durch den Raum und betrachten die Bilder. Sie unterhalten sich mit ihren Mitschülern darüber.

7. Anschließend tauschen die Schüler ihre Erfahrungen in der Gesamtgruppe aus. Der Lehrer ist bereit, ihnen zu helfen Als Hausaufgabe sollen sie das freie Erzählen über das gezeichnete Bild vorbereiten, eventuell ihre Bilder weiter ausgestalten.

2. Stunde
1. Die in der ersten Stunde angefangene Diskussion im Plenum wird weitergeführt, eventuelle sprachliche Probleme werden geklärt.

2. Dialogspiel in der Gruppe:
Die Schüler sitzen im Kreise. In der Mitte stehen zwei Stühle – der eine Stuhl ist für den, der sein Phantasieland vorstellen möchte. Der andere Stuhl ist für den Schüler, der interessierte Fragen stellen wird oder Vermutungen über das gezeichnete Land hat.

Das Gespräch kann wohl so aussehen:
– Warum hast du das Süßland als dein Traumland gezeichnet?
– Ich mag Süßigkeiten.
– Du wirst ganz schlechte Zähne haben.
– Ja, leider hast du Recht.
– Ich sehe keine Tiere, die du so magst!?
– Ich habe sie als Gummibärchen und Bonbons dargestellt.
– Warum hast du nur einen einzigen Menschen gezeichnet, wo sind die anderen?
– Ja, das stimmt. Mein Mensch ist zwar ein bisschen dick, dagegen aber nett und freundlich und genau so sind alle anderen in meinem Traumland…
– Ich besuche gerne dein Traumland, weil ich auch Süßigkeiten mag.
(Schülerarbeit N.1 -Junge, 11 Jahre alt, 2 Jahre Deutsch)

3. Abschlussdiskussion
Der Lehrer kann folgende Fragen stellen:
– In welcher Rolle habt ihr euch besser gefühlt und warum? 
Die Schüler haben sich in der Rolle des Besuchers des Traumlandes besser gefühlt, weil sie zu dem Bild Fragen stellen konnten, viel Interessantes erfahren konnten, das gezeichnete Traumland durch ihre Fragen ergänzen konnten.
– Welche Fragen und Antworten eurer Mitschüler im Dialogspiel findet ihr anregend und originell?
Alle Zeichnungen fanden sie interessant, weil sie Anlass waren, Verschiedenes über ihre Mitschülerinnen, ihre Mitschüler zu erfahren.
– Wiederholen sich bestimmte Motive/Situationen in euren Bildern (welche – was meint ihr, warum?)
Viele Kinder haben das gezeichnet, was sie sich wünschen (ein Meer, einen Musikshop, Pferde, ein großes Einfamilienhaus usw.)
– Wozu Phantasie in unserem Leben? Phantasierst/ träumst du gern und oft? Ist das für dich wichtig – warum?
In einer Zeit, in der unsere Welt oft stressig, hektisch, langweilig ist, möchte man in die Welt der Phantasie fliegen, sich Gutes und Interessantes ausdenken. Phantasieländer, genau so wie Märchen führen uns in Welten, in denen das Gute immer das Schlechte besiegt und die Menschen glücklich sind – dies gehört zu den wichtigsten ethischen Zielen im Leben.
Die Schüler selbst betonen, auf diese Art neue Wörter zu lernen sei besser als in der traditionellen Weise.

Beim mehrkanaligen Lernen öffnen sich viele Tore, durch die der Wortschatz in unser Gedächtnis Eingang finden kann. Bei diesem Prozess sind also alle Sinne für das Lernen eingespannt – darunter verstehen wir mehr als die Kombination von Lesen, Schreiben, Hören und Sprechen, wir aktivieren dazu unsere Vorstellungen von Klängen, Rhythmen, Melodien, Farben, Geräuschen, Geschmack- und Tastempfindungen, Mimik und Gestik. Dank unserer Einbildungskraft können wir sie lebhaft wahrnehmen. Auf der Palette unserer Phantasie mischen wir Eindrücke, dadurch werden kreative Fähigkeiten entwickelt – gerade die Visualisierungstechnik bietet viele praktische Anwendungsmöglichkeiten.

(Anhang )
Schülerarbeiten:
N.2 – Idyllische Landschaft – Mädchen,11, 2 Jahre Deutsch
N. 3 – exotische Insel – Mädchen , 12, 2 Jahre Deutsch
N Abenteuerliche Insel – Junge, 11, 2 Jahre Deutsch)

3. Aspekte, die aufgegriffen und diskutiert wurden bzw. zu denen praktisch gearbeitet wurde
Die erinnerte Begegnung mit der Lehrerpersönlichkeit aus der eigenen Schulzeit stärkte das Bewusstsein für ein Lernen am Modell. Die Teilnehmerinnen, Teilnehmer begrüßten diese Erfahrung.In der Arbeitssequenz mit literarischen Texten am Beispiel des Gedichts „Auf der Schaukel“ von Heinz Janisch wurde nachvollziehbar, wie die Schüler für den Unterrichtsstoff durch eigenes Handeln (bei der Verwendung der Visualisierungstechnik) sensibilisiert werden können.

In der Abschlussdiskussion wurde von den Workshopteilnehmern problematisiert, wie der Erwerb grammatikalischer Kenntnisse in Deutsch als Fremdsprache mit dem im praktischen Beispiel überbetonten affektiven Umgang mit dem Text vereinbart werden kann.

Herausgestellt wurde bei dem gewählten Ansatz der Vorteil, dass Schülerinnen, Schüler im Interesse füreinander vorhandene Sprachbarrieren leichter überwinden und miteinander kommunizieren. Sprachliche, soziale, kulturelle und leistungsmäßige Heterogenität kann somit als Bereicherung und weniger als Störung empfunden werden.

4. Fazit und Perspektive
Unser Ansatz wurde durch die Arbeit mit der engagierten Teilnehmergruppe bestätigt. Im Kontext von interkultureller Bildung kann diesem in der Lehrerfortbildung weiterhin Raum gegeben werden.
von Uscha Forster


Die Tagung 2003 ist vorbei.
Wie immer gab es viele Anregungen in Vorträgen und Workshops.
…und natürlich ein tolles Fest.
Einen herzlichen Dank noch einmal an das Vorbereitungsteam!!!

 

Wir waren dort!