2.        Das Spezifische der Gestaltpädagogik

Ich werde nun aus diesen grundsätzlichen Überlegungen das Spezifische der Gestaltpäda­gogik ableiten und auflisten, das Besondere, das sie von anderen pädagogischen Ansätzen unterscheidet. Dabei sind nicht alle einzelnen Elemente spezifisch. Manches überschneidet sich mit anderen Ansätzen. Spezifisch ist das gestaltpädagogische Gesamtsystem als ein „Zusammenhang sinnhaft aufeinander bezogener Handlungen“, als ein Zusammenspiel zirkulärer Prozesse. Dabei kann ich Sie heute nicht durch das ganze gestaltpädagogische Gebäude führen. Ich werde lediglich den Bauplan vorlegen.

Zum gestaltpädagogischen System gehören:

2.1   Die Einsicht, dass unsere Gruppen undurchschaubar und unberechenbar sind

Da ist zunächst die Einsicht, dass auch die Gruppen, in denen wir arbeiten, Schulklassen und Lehrerkollegien etwa, hochkomplexe soziale Systeme sind, die wir nicht zureichend durch­schauen, analysieren, kategorisieren und sortieren können. Wir sehen nur die Oberfläche, nicht den Hintergrund. Wir kennen nicht die Geheimnisse der Einzelnen und der Gruppe, wissen nicht, was sie alles beeinflusst und bewegt. Darum verzichten wir darauf zu sagen, was wir nicht wissen. Dies ist die gestaltpädagogische Bescheidenheit!

Wir ersparen uns dadurch die Resignation vor dem angeblich Faktischen und verzichten auf Totschlagargumente nach der Art: „Schon 3 Jahre habe ich diese Klasse. Mit denen ist nichts zu machen. Ich habe schon alles versucht.“ Wir bezweifeln solche Erfahrungen auch nicht. Aber wir wehren uns gegen die negativen zirkulären Prozesse, die sich gegenseitig nur immer selbst bestätigen und verstärken, in die Resignation führen und in die lustlose Routine. Dann ist wirklich nichts mehr zu machen. Und wir erhalten uns die Möglichkeit, doch noch Überraschungen zu erleben.

In den gruppendynamischen Laboratorien der 70er, die auf den Gestaltpsychologen Kurt Lewin zurückgingen, habe ich dazu wichtige Erfahrungen gemacht. Alle, die mitmachten, hatten schon jahrelang Gruppen geleitet. Hier sind wir Teilnehmer. Die gewohnte Ordnung gilt hier nicht. Die Trainer geben auch keine neue Ordnung vor. Keiner sagt uns, was wir nun tun sollen. Wir sitzen da, führerlos, ratlos und unsicher. Damit überhaupt etwas geschieht, nimmt irgendeiner die Zügel in die Hand. Die anderen torpedieren ihn, weil das so nicht abgesprochen war. Die Stimmung wird gereizt. Ärger, Ablehnung, Missgunst kommen hoch, zunächst noch gezügelt durch konventionelle Höflichkeit, die irgendwann zerbricht. Wir streiten, kränken und verletzen uns gegenseitig. Manche reden unerträglich viel, andere sind beleidigt und sagen überhaupt nichts mehr. Ich habe dort gelernt, wie undurchschaubar und unberechenbar Gruppen sind, welche Fülle von Emotionen in einer zunächst so friedlichen und lernwilligen Gruppe schlummern, wie schnell sie sich durch zirkuläre Prozesse hochschaukeln und welchen Anteil ich selbst daran habe.

Wir sind bald über das klassische gruppendynamische Setting hinausgegangen und stießen auf die persönlichen, oft lebensgeschichtlich bedingten Muster in der Person des Leiters. Eine solche Selbsterfahrung ist für Gestaltpädagogen wohl unverzichtbar. Das kann man nicht aus Büchern lernen.

2.2  Die Fähigkeit, Feedback zu geben und anzunehmen

Damals neu und manchmal hart war die Einübung in Feedback. Die Trainer geben uns Rückmeldungen und wir uns gegenseitig. Ich erfahre, wie die anderen mich sehen und was mir noch keiner gesagt hat. Später habe ich manchmal auf solche Rückmeldung verzichtet, aus Zeitmangel oder weil ich meinte, es sei doch alles gut gelaufen - was auch ein Irrtum sein konnte. Dann bekam ich später die Quittung. Darum möglichst keine Lernprozesse ohne Feedback gestalten. Dabei haben wir darauf zu achten, dass im Feedbackprozess keiner niedergemacht, verletzt und entwürdigt wird.

2.3 Die Einsicht, dass wir mitstricken an den Verhaltensmustern unserer Gruppen

Die Leiter, die nur schweigend zuschauten, bestimmten gerade dadurch wesentlich das Gruppengeschehen. Denn sie standen ja nicht außerhalb, sie waren ein Teil dieser Gruppe. In einem solchen System aber kann man nicht nicht kommunizieren. So sind Lehrer nicht nur das Gegenüber, sie sind auch Teil der Gruppen, mit denen sie arbeiten.

Dazu ein Beispiel: Bei einer pädagogischen Fachtagung über ‚Aggression‘ referiert der Kollege über einen besonders aggressiven Jungen in einem Kinderheim, in dem er selbst Erzie­her war. Zur Strafe und um die anderen Kinder vor ihm zu schützen, hat er ihn mehrmals alleine in einem Zimmer eingesperrt. Der Junge hat dann jedes Mal die Türfüllung eingetreten. Der Grund für diese Aggressivität sei eine gestörte frühkindliche Mutterbeziehung. Das mag ja stimmen. Aber ich glaube nicht, dass es alleine daran lag. Je länger er berichtet, um so mehr vermute ich, dass der Referent an diesem aggressiven Muster selbst tüchtig mitgestrickt hat, indem er auf Aggression mit Gegenaggression antwortet und negative zirkuläre Prozesse verstärkt.

Genau das ist die Verführung der Routiniers: Sie erleben in vielen Gruppen Ähnliches und meinen, die Gründe längst zu kennen: das soziale Umfeld, unfähige Eltern, Sprachprobleme, Pubertät ..., also Gründe, auf die sie selber keinen Einfluss haben. Diese Gründe mögen stimmen. Aber sie schauen von außen und vergessen, dass sie mitten dazwischen sind, dass sie in irgendeiner Weise mitgestrickt haben an den Verhaltensmustern, die sie nun beklagen.

2.4   Vertrauen in die Dynamik unserer Gruppen.

Wir hatten bereits gesagt: Das Wechselschema von Gestalt und System und die Tendenz, offene Gestalten zu schließen, Sinnsuche und Sinnfindung, Zirkuläre Prozesse und Außeneinflüsse halten unsere Gruppen in Bewegung. Auf diese Dynamik vertrauen wir, dieses Potential nutzen wir. Denn auch unsere Gruppen sind ‚sinnhaft‘, sie tun etwas, um etwas zu erreichen. Sie kommen in die Schule, um zu lernen. Nicht nur deshalb! Sie wollen auch soziale Kontakte, wollen Zuschauer und Beifall bei ihren Auftritten, wollen Spaß haben. So sind die Einzelnen und mit ihnen die Gruppe in Bewegung auf etwas hin, haben eine Richtung und ein Ziel – oder mehrere Richtungen und Ziele.

Darum sind wir keine Mitreißer, keine Animateure, die durch Witz, Fröhlichkeit und originelle Einfälle erst einmal Schwung in einen toten Laden bringen und ihn immer wieder neu ankurbeln. Wir sind nicht die Lokomotiven, die mit ihrer Kraft alle mitziehen, gleichzeitig durch die Wagen laufen, die Einschlafenden wieder munter machen, Ausgestiegene wieder einsammeln, alle begeistern. Obwohl wir von all dem auch etwas haben und brauchen! Wir sind aber auch nicht ohne Engagement, langweilig, dröge, uninteressiert.

Wir setzen auf die Kraft, die die Gruppe aus sich heraus in Bewegung hält, auf den Willen zum Lernen, auf die Neugier, die wir nicht verschütten dürfen, sondern freilegen und nutzen. Und ich behaupte, dass dies möglich ist.

Dabei sind wir nicht untätig. Weil wir wissen, dass wir sowieso nicht außen vor sind, gehen wir bewusst mit an Bord. Und wir sind nicht nur dabei, wir steuern, korrigieren, wenn’s nötig ist, den Kurs. Aber wir steuern von innen heraus in Absprache mit den anderen. Denn wer von außen steuert, nimmt die Bewegung aus dem Schiff, beklagt dann wie schwerfällig und desinteressiert die Schüler seien und wie mühsam es sei, das Gruppenschiff immer wieder in Fahrt zu bringen.

Das heißt unter anderem: Wir gehen nicht in die Disziplinierungsfalle. Dazu ein typisches Gegenbeispiel: Die junge Religionslehrerin möchte  die Herzen der Kinder erreichen und gibt sich viel Mühe. Aber einige machen nicht mit, zeigen demonstrativ ihr Desinteresse, unterhalten sich, lachen, stören und machen alles kaputt. Sie ermahnt, tadelt, wird ärgerlich, macht Vorwürfe. Die Übeltäter verteidigen sich, sie hätten doch überhaupt nichts gemacht. Das anfangs freundliche Klima lädt sich aggressiv auf. Unwille breitet sich aus. Auch die Lehrerin hat keine Lust mehr. Sie ist in die Disziplinierungsfalle gegangen und weiß nicht, wie sie da herauskommen kann. Endlich das Klingelzeichen! „Religion ist Scheiße“, sagt einer beim Herausgehen so laut, dass sie es hören muss.

Bei dieser Falle ist es wie bei den Mobiles, den leichten Gebilden, die man an dünne Fäden aufhängt und die sich grazil im Luftstrom drehen – bis sie sich an irgendeiner Stelle mitein­ander verhaken. Sollen sie sich wieder frei bewegen, dann darf man sie nicht an diesem Punkt anstoßen. Sie würden sich noch mehr verhaken. Das muss man intelligenter machen und einen anderen Punkt wählen. Gestaltpädagogik ist die Kunst, diesen anderen Punkt zu finden.

Zu dieser Intelligenz gehört auch die Fähigkeit, einen guten Kurs zu steuern. Das ist ja der typische Anfangsfehler auch beim Segeln, dass man meint, jeder Kurs sei möglich. Dort ist der rettende Steg, da steuert man drauf zu. Aber das Segel killt. Der Wind kommt von vorne, stoppt die Fahrt, schiebt das Boot zurück, treibt es ab. Da greift dann kein Steuer mehr. Die Panik kommt. Der gute Gestaltpädagoge, der die Dynamik der Gruppe nutzt, wird nicht gegen den Wind steuern, sich aber auch nicht wegtreiben lassen von seinen Zielen, sondern flexibel reagieren. In diesem Fall wird er gegen den Wind kreuzen. Denn das ist unsere Hohe Kunst, den Wind auch dann zu nutzen, wenn er uns entgegen steht. Hauptsache, er bläst!

2.5  Der gemeinsame Prozess der Gestaltfindung

>Ich zitiere noch einmal unseren Kernsatz: „Gestalt ist nicht das Ganze, sondern das, was vom Ganzen in dieser Gruppe gerade jetzt wichtig ist, bevor anderes wichtig werden kann, woran wir jetzt nicht vorbeikommen, wenn wir weiter­kommen wollen, was jetzt zu klären ist, bevor anderes geklärt werden kann, was jetzt verändert werden muss, damit andere Veränderungen möglich werden.“ Dies ist ein dynamischer Prozess. Er kann sich sehr schnell verändern. Neue Gestalten kommen in den Vordergrund und bestimmen die Szene, vom Leiter oft als Störung empfunden. Plötzlich geht es in eine ganz andere Richtung. Wir sprechen dies sehr bald an. Statt Ermahnung, Tadel und Ärger stellen wir die Wozu-Frage: Wozu machst du das jetzt? Was wollen wir, was wollt ihr, was will ich damit erreichen? In einer kurzen Absprache klären wir, wie es gemeinsam weitergehen soll. Damit haben wir nicht das Ganze geklärt, wohl aber das für den Fortgang des Lernprozesses jeweils Wichtige. Blockierte Kräfte werden frei. Das Gruppenboot kann wieder Fahrt aufnehmen bis sich die nächste Gestalt in den Vordergrund schiebt. Gestaltpädagogik ist Leitung und Begleitung in gemeinsamen Gestaltfindungsprozessen, ein Weitergehen von Gestalt zu Gestalt. Die akademische Formel dazu: Gestaltpädagogik ist  prozesshafte ganzheitliche Reduktionspädagogik.

Damit aber beschreiben wir den allgemeinen Lebensprozess: Leben und lernen geschieht im Nacheinander von Komplizierung und Reduktion auf das jeweils Vordringliche, was zu klären und zu tun ist, was wir ‚Gestalt‘ nennen. Danach kann es weitergehen bis sich durch äußere und innere Beeinflussungen wieder eine neue Komplexität entwickelt, die wieder zu reduzieren ist usw.

Zweierlei möchte ich noch ergänzen:

  • Ein solches Arbeiten setzt voraus und fördert eine offene, vertrauensvolle und eher nüchterne pädagogische Beziehung.
  • Zwar hoffen wir, dass unser Lehren auch therapeutische, also heilende Aspekte hat, aber wir machen keine Therapie. Pädagogische Gruppen sind keine Therapie- oder Selbsterfahrungsgruppen. Hierzu fehlt in der Regel das Mandat.

Damit leiten wir über zum nächsten Kapitel.

weiter